Ein Plädoyer von Timo Daum für den nüchternen Umgang mit datengetriebener Software-Anwendungen (Beitrag auf heise online vom 3.6.2018):
In der Anfangszeit der Künstlichen Intelligenz waren die Hoffnungen noch gross: Die vom berühmten
Alan Turing (1912-1954) höchstpersönlich gestellte Frage – "können Maschinen denken?" – schien in wenigen Jahren lösbar. So einfach war es dann doch nicht, in den 1970er Jahre wurde es im sogenannten KI-Winter sehr ruhig um die Disziplin. Heute ist Künstliche Intelligenz wieder in aller Munde – ob es um Bilderkennung, die Vorauswahl von Bewerberinnen und Bewerbern, autonom fahrende Autos oder Social Scoring geht. Alle großen Internet-Konzerne arbeiten fieberhaft an Sprachassistenten, die das nächste grosse Ding des digitalen Kapitalismus zu werden versprechen. Hier werden jedoch deutlich kleinere Brötchen gebacken. Von denkfähigen Robotern, die mit uns Menschen gleichziehen, ist nicht mehr die Rede.
Können Maschinen denken? Dieser Frage widmete sich Alan Turing in seinem bahnbrechenden Essay "Rechenmaschinen und Intelligenz" (1950). Gleich im ersten Absatz gibt er die passende Antwort auf die Frage: das sei "absurd"! Warum? Weil die Begriffe Maschine und Denken an sich schon so dehnbar seien, dass viel mehr als eine akademische Diskussion nicht zu erwarten sei. Turing verwirft den Versuche, einer Definition und schlägt stattdessen ein Imitationsspiel vor, das ein eindeutiges Ergebnis auf die Frage, ob eine Maschine intelligent sei oder nicht, zu liefern in der Lage sei: Der berühmte
Turing-Test der Künstlichen Intelligenz. Dabei kommuniziert eine Person (Jury) über einen Chat mit einem Menschen und mit einem Computer parallel. Beide versuchen, die Jury in endlicher Zeit zu überzeugen, menschlich zu sein. Gelingt es dem Computer, zu einem gewissen Prozentsatz als Mensch durchzugehen, spricht Turing diesem Computer Intelligenz zu: Er hat das Imitationsspiel gewonnen.
Als Turing seinen Test erfand, war der Begriff Künstliche Intelligenz noch gar nicht erfunden. Das besorgte ein paar Jahre später der amerikanische Mathematiker John McCarthy. Um Geldgeber für ein von ihm geplantes Sommerlager von Mathematikern zu gewinnen, erfand er 1955 den Begriff
Artificial Intelligence, welche sich als genialer Marketing-Coup erweisen sollte. Anlässlich dieses historischen Ereignisses lieferte er gleich eine Definition mit: "Die Herstellung einer Maschine, die sich auf eine Art und Weise verhält, die wir intelligent nennen würden, wenn ein Mensch sich so verhielte." Auch hier begegnen wir dem ergebnisorientierten Kalkül à la: ”Entscheidend ist, was hinten rauskommt." (Helmut Kohl, 1930-2017, 6. Bundeskanzler der BRD).
Bis heute müssen wir uns nun mit dieser problematischen Wortschöpfung herumschlagen. Auch McCarthys Definition ist nicht sehr präzise, geschweige denn wissenschaftlich: Erstens bemüht sie einen Vergleich mit menschlichem Verhalten bzw. unserer Haltung zu diesem: Was Intelligenz überhaupt sein soll, wird immer noch kontrovers diskutiert. Und zweitens sagt McCarthys Definition nichts über Struktur oder Funktionsweise aus. Definierten wir analog z.B. einen Motor als etwas, das stinkt und ein Auto bewegen kann, würde uns das nicht zufriedenstellen – es enthält keine Aussagen über das Wesen bzw. das Funktionsprinzip des Motors. Auch maschinelles Lernen ist ein trügerischer Begriff. Machine learning unterscheidet sich stark von der Art und Weise, wie wir Menschen lernen. Das Training mit vielen Daten, das hier zum Einsatz kommt, ist nicht zu vergleichen mit dem schwammartigen Aufsaugen von Information, deren Rekombination und Abstraktion, die wir von uns selbst kennen. Maschinelles Lernen ist demgegenüber ein mühseliger Prozess, erfordert viel Vorbereitung durch menschliche Forscher oder Ingenieure, spezielle Programmierung und gigantische Trainingsdatensätze.
Wenn wir über Künstliche Intelligenz reden, hantieren wir mit einem schwer zu fassenden Begriff. Und zudem schwingt der Vergleich mit dem Menschen und seinen geistigen Fähigkeiten immer mit. Daher schlägt Timo Daum zweierlei vor: Wir sollten nicht über künstliche Intelligenz sprechen, wenn von Software die Rede ist, die für spezifische Situationen programmiert ist – ausserdem sollte die Diskussion darüber, ob oder wie intelligent ein Algorithmus oder eine Maschine sind, gar nicht geführt werden. Stattdessen sollten wir uns fragen, welche Aufgaben sie auf welche Weise und in welchem Maß erfolgreich bewältigen können. Wozu dienen sie, wie gut lösen sie eine bestimmte Aufgabe? Und wir sollten auch immer fragen: Wem gehören sie, wer will uns was verkaufen und was macht das mit uns?